
Glasgows Nekropole – und eine Erinnerung
Auszug aus dem Kapitel Glasgow aus Paris bleibt in Paris
„Ich würde mir gerne die Nekropole anschauen, wenn Sie mögen“, sagte Elly zögerlich. Sie hatte ihre Kamera einpackt und hoffte auf einige schöne Aufnahmen.
„Gut, dann auf zu der Nekropole. Sie müssen mir allerdings etwas zur Geschichte des Ganzen erzählen.“
Nichts leichter als das für Ellys Historikerseele.
Wie sie kurze Zeit später sah, hatte auch ihr Chef seine Kamera umhängen.
„Die Nekropole von Glasgow stammt aus dem Viktorianischen Zeitalter. Das Gelände war zuvor ein Park und wurde in den 1830er-Jahren zu einem Friedhof umgebaut. Wörtlich genommen ist es gar kein Friedhof, da das Gelände nicht ‚eingefriedet‘, also ohne Zaun, ist. Ich habe gelesen, dass hier dreitausendfünfhundert Grabmäler stehen. Vorbild war der Pariser Friedhof Père Lachaise. Waren Sie mal dort?“
„Ja, ich kenne den berühmten Friedhof. Kennen Sie Paris?“
Elly schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. „Ja.“
„Sie mögen die Stadt nicht?“
„Doch“, entgegnete Elly schweren Herzens. Sie konnte jetzt nicht über Paris nachdenken. „Ich mag Paris sehr. Wussten Sie, dass in der Nekropole mehr als fünfzigtausend Begräbnisse stattgefunden haben?“
„In fast zweihundert Jahren und auf die Einwohnerzahl von Glasgow gerechnet, erscheint das realistisch.“ Schlaumeier. Elly verkniff sich ein genervtes Stöhnen.
Sie blieb auf dem Weg zu der Nekropole mehrmals vor riesigen Graffitis stehen, die ganze Häuserwände bedeckten und den grauen Gebäudekomplexen Farbe verliehen. Eigentlich waren es mehr überdimensionale Wandgemälde als das, was man landläufig unter Graffitikunst verstehen würde. Elly war tief beeindruckt. Sie fotografierte ein Graffiti, das einen Blick in einen Hörsaal eröffnete. Der Künstler hatte in seine Schwarz-Weiß-Darstellung einigen Studenten Farbe verliehen und verwies damit womöglich auf die Internationalität und kulturelle Vielfalt der Uni. Elly war begeistert von der Perspektive und der Lebendigkeit der Gesichter. Die Darstellung zweier Marionetten an einem anderen Gebäude amüsierte sie, ein Teleskop mit Sternenhimmel darüber ließ sie träumen.
„Wussten Sie, dass es sogar einen City Centre Mural Trail gibt, auf dem man die meisten dieser Kunstwerke besuchen kann? Diese Art der Verschönerung würde der Uni Stuttgart auch nicht schaden.“
„Und dem Rathaus.“
Elly kicherte über Herrn Krügers Bemerkung. Der Nachkriegsbau des Stuttgarter Rathauses war wahrlich kein architektonisches Meisterwerk. Allerdings war so manch Neubau in ihrer Heimatstadt Hamburg nicht eben ansehnlicher geraten. Die Nekropole liebte sie zwar nicht so abgöttisch wie ihre Hansestadt, trotz der Bausünden, gleichwohl streifte sie kurze Zeit später fasziniert zwischen Grabstelen und Familiengrüften umher und schoss Foto um Foto. Nebenher beobachtete sie Herrn Krüger, der wesentlich geübter durch seine Kamera schaute und gekonnt Blende und Belichtung einstellte.



Oben auf dem Hügel angekommen, richtete Elly ihre Nikon auf die etwas tiefer liegende Kathedrale. Innen war sie touristisch überlaufen und kein Ort der Besinnung gewesen. Von hier betrachtet lag sie erhaben zwischen all dem Grün am Fuße viktorianischer Grabmäler und gab ein schönes Motiv ab.
Nachdem sie den Auslöser gedrückt hatte, bemerkte Elly, dass ihr Chef auf die Sockelstufen einer Statue in der Nähe geklettert war und geistesabwesend zu dem Engel aus Stein emporblickte.
Elly hätte später nicht sagen können, warum sie es tat, aber sie konnte einfach nicht anders. Sie blickte erneut durch das Objektiv, zoomte ihren Chef heran – und verharrte mit dem Finger auf dem Auslöser. Das konnte nicht sein! Sie ließ die Kamera langsam wieder sinken und starrte Herrn Krüger an. Nein, das … nein … bitte lass das nicht wahr sein!
…
