
1001 Nacht
Sie sah ihn verstohlen aus dem Augenwinkel an. Er war kaum größer als sie selbst, schlank, besaß eine sportliche Figur, blonde Haare und einen kurzgetrimmten Bart. Alles an ihm entsprach so gar nicht ihrem bevorzugten Typ Mann. Und doch faszinierte er sie auf eine Art und Weise, die sie nicht verstand. Er besaß etwas, das ihr vom ersten Moment an unter die Haut ging, wie sie es noch nie erlebt hatte.
Zunächst war er nur jemand, mit dem sie für einen neuen Kunden zusammenarbeiten würde. Ein Name, eine Mail-Adresse, eine Telefonnummer. Sie schrieben sich, waren schnell per Du. Die Tage vergingen, der Austausch funktionierte problemlos, eine Mail hier, eine Chatnachricht da. Dann musste es plötzlich mal schnellgehen. Sie griff zum Telefon und wählte seine Nummer.
Mit dem, was dann passierte, hatte sie nicht gerechnet. Die Stimme, die sich meldete, verschlug ihr den Atem. Das Kribbeln, das sich in ihrem Körper ausbreitete, hatte sie noch nie gespürt. Seine Stimme war weder hoch, noch besaß sie einen tiefen Bass. Sie klang weder jungenhaft noch extrem männlich. Sie war weich, hatte eine Tonlage, die sich wie Samt auf ihrer Haut anfühlte, die ihre Ohren hypnotisierte und ihr Herz zum Flattern brachte.
Während die Stimme unter ihre Haut kroch, geschah jedoch noch etwas Ungewöhnliches. Sie wurde nicht nervös. Normalerweise bekam sie beim ersten Gespräch mit Unbekannten schwitzige Hände und vergaß die Hälfte von dem, was sie hatte sagen wollen. Ohne Spickzettel funktionierten weder solche Telefonate, geschweige denn Begegnungen. Und witzig und schlagfertig war sie dann schon gar nicht. Kannte sie ihr Gegenüber, wusste ihn oder sie einzuschätzen, fiel ihr jegliche Kommunikation leicht. Nichts brachte sie dann während eines Auftrags aus dem Konzept.
Diesmal war alles anders. Sie besprach mit ihm alles, was sie besprechen wollte, wobei ihr sogar der ein oder andere Scherz locker von den Lippen ging.
Noch lange, nachdem sie aufgelegt hatte, saß sie da und fühlte seine Stimme überall in ihrem Körper. Ein Gedanke schlich sich in ihr Bewusstsein: Googele ihn! Doch etwas in ihr wehrte sich. Würde das, was sie zu sehen bekam, zu dem passen, was sie gehört hatte? Es war nicht selten, dass man sich schwertat, ein Gesicht und eine Stimme zusammenzubringen, wenn man beide zuvor getrennt voneinander gehört beziehungsweise gesehen hatte. Sie fürchtete sich vor einer Enttäuschung. Vielleicht war er ja auch wesentlich älter oder jünger als er sich anhörte?
Aber was erwartete sie eigentlich? Sollte das der unglaubliche Zufall sein, der ihr den Traummann bescherte? Manchmal hoffte sie es. Sie war jedoch bisher zu oft enttäuscht worden. Sie zögerte. Sie zögerte tagelang, Tage, in denen sie keine E-Mails schrieb, sondern ihn anrief, wann immer sich die Gelegenheit bot. Sie wollte nichts mehr tun, als diese Stimme zu hören. Sie fühlte sich von ihr angezogen wie die Motte von Licht. Und umso mehr persönliche, oder eher berufliche, Statusdetails sie nebenbei austauschten, desto größer wurde die Anziehungskraft.
Schließlich packte sie doch die Neugier. Sie klickte auf die Internetseite in seiner Signatur.
Und da war er …

