orientalische Lampe, erleuchtet, dunkler Hingergrund, vermutlich Nacht, von pixbay by katarzynajavaheri0
Epilog – kleine Geschichten

1001 Nacht

Sie sah ihn verstohlen aus dem Augenwinkel an. Er war kaum größer als sie selbst, schlank, besaß eine sportliche Figur, blonde Haare und einen kurzgetrimmten Bart. Alles an ihm entsprach so gar nicht ihrem bevorzugten Typ Mann. Und doch faszinierte er sie auf eine Art und Weise, die sie nicht verstand. Er besaß etwas, das ihr vom ersten Moment an unter die Haut ging, wie sie es noch nie erlebt hatte.

Zunächst war er nur jemand, mit dem sie für einen neuen Kunden zusammenarbeiten würde. Ein Name, eine Mail-Adresse, eine Telefonnummer. Sie schrieben sich, waren schnell per Du. Die Tage vergingen, der Austausch funktionierte problemlos, eine Mail hier, eine Chatnachricht da. Dann musste es plötzlich mal schnellgehen. Sie griff zum Telefon und wählte seine Nummer.

Mit dem, was dann passierte, hatte sie nicht gerechnet. Die Stimme, die sich meldete, verschlug ihr den Atem. Das Kribbeln, das sich in ihrem Körper ausbreitete, hatte sie noch nie gespürt. Seine Stimme war weder hoch, noch besaß sie einen tiefen Bass. Sie klang weder jungenhaft noch extrem männlich. Sie war weich, hatte eine Tonlage, die sich wie Samt auf ihrer Haut anfühlte, die ihre Ohren hypnotisierte und ihr Herz zum Flattern brachte.

Während die Stimme unter ihre Haut kroch, geschah jedoch noch etwas Ungewöhnliches. Sie wurde nicht nervös. Normalerweise bekam sie beim ersten Gespräch mit Unbekannten schwitzige Hände und vergaß die Hälfte von dem, was sie hatte sagen wollen. Ohne Spickzettel funktionierten weder solche Telefonate, geschweige denn Begegnungen. Und witzig und schlagfertig war sie dann schon gar nicht. Kannte sie ihr Gegenüber, wusste ihn oder sie einzuschätzen, fiel ihr jegliche Kommunikation leicht. Nichts brachte sie dann während eines Auftrags aus dem Konzept.

Diesmal war alles anders. Sie besprach mit ihm alles, was sie besprechen wollte, wobei ihr sogar der ein oder andere Scherz locker von den Lippen ging.

Noch lange, nachdem sie aufgelegt hatte, saß sie da und fühlte seine Stimme überall in ihrem Körper. Ein Gedanke schlich sich in ihr Bewusstsein: Googele ihn! Doch etwas in ihr wehrte sich. Würde das, was sie zu sehen bekam, zu dem passen, was sie gehört hatte? Es war nicht selten, dass man sich schwertat, ein Gesicht und eine Stimme zusammenzubringen, wenn man beide zuvor getrennt voneinander gehört beziehungsweise gesehen hatte. Sie fürchtete sich vor einer Enttäuschung. Vielleicht war er ja auch wesentlich älter oder jünger als er sich anhörte?

Aber was erwartete sie eigentlich? Sollte das der unglaubliche Zufall sein, der ihr den Traummann bescherte? Manchmal hoffte sie es. Sie war jedoch bisher zu oft enttäuscht worden. Sie zögerte. Sie zögerte tagelang, Tage, in denen sie keine E-Mails schrieb, sondern ihn anrief, wann immer sich die Gelegenheit bot. Sie wollte nichts mehr tun, als diese Stimme zu hören. Sie fühlte sich von ihr angezogen wie die Motte von Licht. Und umso mehr persönliche, oder eher berufliche, Statusdetails sie nebenbei austauschten, desto größer wurde die Anziehungskraft.

Schließlich packte sie doch die Neugier. Sie klickte auf die Internetseite in seiner Signatur. Und da war er. Ja. So sah er also aus. Sie sank in ihrem Stuhl zurück und schalt sich, dass sie es unbedingt hatte wissen wollen. Es war nicht so, dass sein Antlitz nicht zu der Stimme passte, die sie so in ihren Bann zog. Sie sah ihn förmlich vor sich, wie er mit ihr sprach. Aber ihr Unterbewusstsein hatte trotz aller Widerstände ihres Verstandes ein Bild von ihm gezeichnet, das ganz und gar nicht mit dem Foto vor ihr übereinstimmte. Er sah gut aus, hätte ihre beste Freundin wahrscheinlich gesagt. Natürlich, er war alles andere als unansehnlich. Aber er entsprach so gar nicht den Männern, die in ihr Beuteschema fielen.

Ihren Frust beiseiteschiebend, klickte sie sich noch ein wenig durch seine Seite. Sie war gut gemacht und sie fand es interessant zu lesen, was er so trieb, von dem er ihr noch nichts erzählt hatte.

Mit zwiespältigen Gefühlen war sie schließlich ins Bett gegangen. Es waren Gefühle, die bis heute immer schwächer geworden waren.

„Das Hotel hat einen komischen Namen“, sagte er und zeigte auf das 5-Sterne-Hause auf der anderen Straßenseite.

„Das ist das ehemalige Palais einer berüchtigten Königsmätresse.“ Sie erzählte ihm die tragische Geschichte der beiden Liebenden des 16. Jahrhunderts.

„Erst lässt er ihr ein Schloss bauen und dann sperrt er sie darin ein? Das muss wahre Liebe sein.“

Sie musste herzhaft lachen.

Während sie zwischen all den historischen Gebäuden weiterschlenderten, an dem Renaissance-Schloss vorbeikamen und die gotische Kirche passierend, sah sie, dass er ihr zwar zuhörte und doch mit den Gedanken meilenweit entfernt zu sein schien.

„Ist alles in Ordnung?“

Es war ihr schon heute Morgen aufgefallen. Als sie das erste – und einzige – Mal zusammen bei einem Workshop waren, war er ein begeisterter Teilnehmer gewesen. Er hatte unzählige Zwischenfragen gestellt und sich mit Feuereifer in die Gruppenarbeiten gestürzt, denen sie nun so gar nichts abgewinnen konnte und die ihrer Meinung nach nichts außerhalb der Schule zu suchen hatten. Heute war sie diejenige gewesen, die sich hervorgetan hatte, während er ab und zu mitdiskutiert, aber nicht sonderlich interessiert gewirkt hatte.

„Ja.“ Mehr sagte er nicht.

Sie sah hinauf in den strahlend blauen Himmel und überlegte, wie sie ihn aufmuntern oder zumindest zum Reden bringen konnte. Selten hatten sie bisher über Probleme und Sorgen gesprochen. Sie kannten sich gut, wussten nach mehr als zwei Jahren, was der andere mochte oder hasste, was sie nach Feierabend machten und ob der andere auf Italienisch oder Griechisch stand. Aber gewisse Stufen der Vertrautheit schienen sie nicht per Telefon oder Messenger überwinden zu können. Der Workshop im letzten Jahr hatte nur einen Tag gedauert. Sie hatten sich dort getroffen und waren am gleichen Abend jeder in eine andere Richtung wieder abgereist. Wenn sie aus ihrer Irgendwie-Freundschaft eine richtige Freundschaft machen wollte, dann waren diese drei Tage ihre Chance.

Die Stimme, die in ihr Widerspruch zum Thema Freundschaft einlegte, versucht sie zu ignorieren. Wenn sie darüber nachdachte, wie nah er gerade neben ihr ging, wollte sie etwas ganz anderes. Sie wollte es schon eine ganze Weile. Denn nicht nur seine Stimme hatte sich unter ihrer Haut festgesetzt. Wie sich herausgestellt hatte, gehörte die Stimme zu einem Mann, von dessen Geschäftssinn sie beide profitierten und mit dem die Projekte wie von selbst liefen. Sie waren ein perfektes Tandem. Er stellte den Erstkontakt zu den Kunden her und setzte die Verträge auf. Sie übernahm die Kommunikation und das Projektmanagement, während er vorwiegend im Hintergrund programmierte. Wenn es nötig war, konnten sie die Aufgaben tauschen, aber diese Rollen hatten sich bewährt. Mittlerweile wurden sie von den meisten Neukunden zusammen beauftragt.

Vor allem jedoch besaß er einen Humor, der ihrem glich. Ein Telefonat endete nie, ohne dass sie miteinander gelacht hatten. Und sie flirteten. Ein bisschen. Aber sie genoss, wie einfach es war. Sie brauchte sich nicht anstrengen. Sie konnte in seiner Gegenwart sein, wie sie war, und war so, wie sie sein wollte.

„He“, rief sie plötzlich. „Ich weiß, was wir heute Abend machen.“ Ihr Blick war auf ein kleines Plakat hinter ihm gefallen, welches einen Vorleseabend mit Märchen aus 1001 Nacht für Erwachsene ankündigte. An einem ihrer ersten Besuche in der Stadt hatte sie an einem solchen Abend teilgenommen und es als ein sehr schönes Erlebnis abgespeichert.

Er war stehengeblieben und sah sie neugierig an. „Was machen wir denn?“

„Lass dich überraschen!“, sang sie.

Die Denkerfalte auf seiner Stirn wurde tiefer. Sie wäre gern mit ihrer Hand darübergefahren, um sie zu glätten. Wie er sich wohl anfühlte? Sie hatten sich bisher noch kein einziges Mal berührt. Ein „Hi“ zur Begrüßung, mehr war es nicht gewesen. Kein Handschlag, schon gar keine Umarmung. Als sie heute Vormittag zusammen vor dem Bildschirm gesessen hatten, hatte sie seine Wärme gespürt und sein Deo gerochen. Sie hatte kurz die Augen schließen und tief durchatmen müssen, um sich konzentrieren zu können.

„Ich mag Überraschungen nicht besonders.“ Er graulte unsicher seinen Bart.

Sie fragte sich, wie es sein musste, einen Mann mit Bart zu küssen, wenngleich er auch nur etwas mehr als ein Dreitagebart war. Eine Erfahrung, die sie noch nicht gemacht hatte, bedingt durch die Tatsache, dass sie eigentlich auf einen anderen Typ Mann stand.

„Es wird dir gefallen.“ Sie lächelte ihn begeistert an, und es gelang ihr, dass er es ihr nachtat.

„Okay“, sagte er gedehnt.

Sie überlegte, ob sie ihn bitten sollte, sie vor ihrem Hotel abzuholen, entschied sich jedoch dagegen. Die Angst, das angenehme Zusammensein zu verderben, indem sie ihn dazu anregte zu denken, sie interpretiere in die Verabredung mehr hinein als darin lag, war zu groß und die gleiche, aus der sie ein Zimmer in einem anderen Hotel gebucht hatte. Denn eine Sache, die sie frühzeitig herausgefunden, aber stets verdrängt hatte, obwohl sie darüber sprachen, war sein Familienstand. Er war verheiratet. Ein bisschen Flirten, mehr war nicht drin. Das Mehr blieb ihrer Phantasie vorbehalten.

„Treffen wir uns um acht am alten Stadttor?“

Sie verabschiedeten sich und er ging gedankenverloren davon.

Sie machte, bevor sie ins Hotel ging, noch einen Umweg zum Fluss, wo sie sich gegen das Eisengeländer lehnte und die vorbeifahrenden Ausflugsboote beobachtete. Langsam versank die Sonne hinter dem Parlamentsgebäude am anderen Ufer und tauchte die Häuserfronten in ein warmes Orange. Es war schön, Zeit mit ihm zu verbringen, von Angesicht zu Angesicht. Aber was sich mit einigen Hundert Kilometern Abstand leichter ignorieren ließ, konnte sie nun definitiv nicht mehr leugnen. Sie wollte ihm nicht nur geistig nah sein.

Sie duschte, warf sich in ihre beste Jeans und ein neues Oberteil und legte Make-up auf. So stand sie pünktlich zur vereinbarten Zeit am Stadttor. Er war schon da. Sie konnte unter seinem Parka erkennen, dass er das T-Shirt gegen ein Hemd getauscht hatte.

„Also, wohin werde ich denn jetzt entführt?“

Sie zeigte auf einen Turm in zweihundert Metern Entfernung. Er gehörte zu einem ehemaligen Fabrikgelände und war zwischenzeitlich ziemlich heruntergekommen gewesen, bis sich ein Kunstverein dem historischen Gebäude erbarmt hatte. Der Verein hatte den Turm runderneuert und seiner imposanten Kuppel innen und außen einen Hauch von Orient verpasst. Unterhalb befand sich ein sich über drei Etagen erstreckendes Café.

„Oha, was ist dort?“, fragte er, während sie auf den Turm zugingen.

„Tausendundeine Nacht.“

Er sah sie fragend an.

„Eine Märchennacht.“

„Märchen?“

„Für Erwachsene.“ Die Dunkelheit verbarg, dass sie rot anlief.

Er hüstelte. „Okay. Na dann.“

Als er seine Brieftasche aus der hinteren Hosentasche zog, schüttelte sie heftig den Kopf. Das war ihre Nacht.

Sie stiegen die Wendeltreppe empor, stoppten an der Bar, um sich ein Glas Wein und ein Bier zu holen, und erklommen schließlich die Kuppel des alten Turms.

Ihm entfuhr ein leises „Wow“, während sein Blick über den komplett mit unzähligen Teppichen ausgelegten Raum wanderte. Die Lampen waren mit farbigen Tüchern verhangen, die alles in ein warmes Licht tauchten. Zu den Fenstern führten fast rundherum einige Treppenstufen. Auf ihnen sowie in den tiefen Fensternischen lagen Kissen zum Daraufsetzen und um sich anzulehnen. Er deutete auf eine noch freie Fensterbank zu ihrer Rechten.

„Sehr gern.“ Sie ging, nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen hatten, voraus, machte es sich mithilfe der Kissen gemütlich und zog ihre Beine in den Schneidersitz.

Sie hatten von hier aus einen perfekten Blick auf das gegenüber dem Eingang aufgebaute Podest, worauf einige Sitzkissen lagen, dazwischen drei Bücher, und einen darüber hängenden Baldachin.

„Beeindruckt?“ Er war still geworden, seit sie angekommen waren.

Ein Lächeln zeigte sich und er nickte. „Ja, ich bin beeindruckt. Das Ambiente ist absolut passend. Allerdings bin ich ein wenig auf die Märchen gespannt.“ Sein Lächeln wurde zu einem spöttischen Grinsen.

Er hatte doch bemerkt, wie sie vorhin rot geworden war. Und schon wurde sie es wieder. Peinlich berührt beugte sie sich zu ihrem Glas Wein zu ihren Füßen und nahm einen großen Schluck.

Da wurde das Licht noch ein wenig mehr gedimmt – zu spät, fluchte sie –, auf dem Podest nahmen zwei Frauen und ein Mann Platz und die Märchenstunde begann.

Ob es die gleichen Märchen waren wie damals, wusste sie nicht mehr. Sie konnte sich nicht erinnern. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie kaum hinhörte, sondern ihre Begleitung sie heute mehr faszinierte als 1001 Nacht. Er hatte sich zurückgelehnt, den linken Fuß aufs rechte Knie gelegt und lauschte gespannt den Märchen, die bisher so gar nicht verrucht, sondern vor allem anders waren als die bekannten Märchen der Gebrüder Grimm. Tief in ihrem Inneren hoffte sie, die Geschichten würden ihren prickelnden Charakter noch entfalten. Die schummrige Beleuchtung, der Alkohol und ein bisschen Erotik würden vielleicht anregend wirken. Und umso länger sie darüber nachdachte, desto mehr fragte sich ihre Libido, wie sich sein trainierter Körper unter dem Hemd anfühlte. 

Seine plötzliche Bewegung riss sie aus ihren Gedanken. Er stellte beide Beine auf den Boden und beugte sich zu ihr. Dabei legte er eine Hand auf ihren Oberschenkel.

Sie schluckte schwer und die Stelle, wo seine Hand lag, fühlte sich heiß an.

Sein Mund berührte ihr Ohr, während er leise sprach, und ein Kribbeln breitete sich auf ihrer Haut aus.

„Ich hatte an etwas anderes gedacht, als du von Märchen für Erwachsene gesprochen hast“, raunte er.

Sie hatte Mühe, ihre Sprache zu finden, weil sein Kopf noch immer so nah war, dass sie seinen Atem an ihrer Wange spürte. „Ja … na ja … an was du gleich denkst.“

Zu etwas Eloquenterem war sie nicht in der Lage. Seine Hand lag noch immer auf ihrem Bein. Doch statt sie wegzunehmen, rückte er ein wenig zu ihr, sodass sich ihre Schultern berührten, streckte die Beine von sich und legte den gesamten Unterarm auf ihren Oberschenkel.

Ihr Herz setzte einige Schläge aus, um anschließend ins Rasen zu verfallen. Was tat er da? Sie hatte sich Ähnliches ausgemalt, klar, aber wieso passierte das wirklich? Hob er ihre Freundschaft nur auf eine neue Stufe, wobei er mindestens zwei übersprungen hatte, oder durfte sie das hineininterpretieren, was sie hineininterpretieren wollte?

Seine Aufmerksamkeit kehrte anscheinend zu den vorgelesenen Märchen zurück. Ihre hatte das Geschehen auf dem Podest endgültig verlassen. Sie hätte gern nach ihrem Weinglas auf dem Boden gegriffen, hatte jedoch Angst, dass er seine Hand wegnahm, wenn sie sich bewegte. Allerdings wurde ihre Position langsam unbequem. Ihre Beine drohten einzuschlafen.

Schließlich entknotete sie ihre Beine so langsam, dass er bemerken musste, wie sie darauf bedacht war, seine Hand da zu halten, wo sie war. Das Zucken seiner Mundwinkel, während er weiter geradeaussah, entging ihr keineswegs.

Mit zitternder Hand griff sie nach ihrem Weinglas und leerte es mit einem Zug, in der Hoffnung, ihre Nerven damit ein wenig zu beruhigen. Und wieder schien er zu wissen, was in ihr vorging, denn er begann sanft ihr Knie zu streicheln.

Bis vor einer Stunde hatten sie noch nicht einmal einen Händedruck ausgetauscht. Heute Nachmittag noch hatten sie sich unterhalten wie eh und je, gescherzt, gelacht und ein bisschen geflirtet – mit Abstand. Er war stiller und in sich gekehrter gewesen als sie ihn bisher erlebt hatte. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass das etwas mit dem zu tun hatte, was hier gerade passierte.

Er drehte seine Handfläche nach oben und sie fühlte seinen Blick auf sich gerichtet. Nie war sie bei ihm nervös gewesen. Jetzt war sie es. Zögernd legte sie ihre kalte Hand in seine und verschränkte ihre Finger mit den seinen. Die anderen Besucher lachten. Sie wusste schon lange nicht mehr, aus welchem Märchen momentan vorgelesen wurde, geschweige denn, worum es ging. Sie starrte auf ihre beider Hände und – plötzlich gingen alle Lichter aus.

Ein erschrecktes Quieken erscholl hier und da, es raschelte, vor ihnen schien sich etwas zu bewegen.

Neben ihr auch. Ihr Augen begannen gerade, sich an die Dunkelheit, die nur durch das durch die bunt verglasten Fenster hereindringende Mondlicht ein wenig erhellt wurde, zu gewöhnen, da sah sie, wie er sich zu ihr drehte. Seine freie Hand schon sich in ihren Nacken und zog sie zu sich. Sie spürte seinen Atem, fühlte seine Wärme und konnte einen kurzen Blick in seine Augen erhaschen, bevor seine Lippen ihren Mund trafen.

Sie war so überrascht, dass sie einen Moment brauchte, um seinen Kuss zu erwidern. Er war sanft, süß und intensiv. Ihr wurde so heiß wie schon lange nicht mehr. Sein Bart kitzelte ein bisschen. Bis sie vergaß, dass es ihn gab.

Dann ging das Licht wieder an. Er löste sich von ihr, während sein Blick noch eine Weile in ihrem hängenblieb. Sie wünschte sich eine Ewigkeit für den Moment. Sie hatte noch nie erlebt, dass ein Mann so küssen konnte. Sie wollte mehr. Doch er lehnte sich in seine Ecke der Fensternische zurück, stellte ein Bein in die Fensterbank und hielt ihr seine Hand hin. Sie verstand das Zeichen und lehnte sich rücklings an ihn.

In seinen Armen lauschte sie noch dem ein oder anderen Märchen. Aufmerksam. Ihre Nervosität war verschwunden. Sie fühlte sich wieder ein bisschen wie sie selbst. Das erregende Kribbeln war jedoch noch da.

Nur ungern löste sie sich eine halbe Stunde später aus seinen Armen.

Sie nahmen ihr Gläser und Jacken und zogen am Ausgang zum Treppenhaus ihre Schuhe wieder an. Kein Wort hatten sie seit seiner zweideutigen Frage gesprochen.

Sie deutet auf eine kleine Tür, die zu einem unterhalb der Kuppel um den Turm herum führenden schmalen Balkon führte. Da kein Schild die Tür zierte und sie halb von einem Garderobenständer verdeckt war, waren sie die einzigen, die sie passierten. Kurz ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass man sie womöglich aussperren könnte. Aber der Gedanke verflog.

Sie atmeten die kühle Nachtluft, die Hände in den Taschen und ein wenig verlegen. Die Aussicht über die erleuchtete Stadt war atemberaubend.

Schließlich durchbrach sie die Stille. „Was ist da drinnen passiert? Ich dachte … na ja …“

Er lehnte sich neben sie an die Brüstung und ließ seinen Blick über die unzähligen Lichter schweifen.

„Du dachtest, dass wir nur befreundete Kollegen seien.“

O Gott, seine Stimme vibrierte in ihr.

„Das auch, weil …“

Wieder brachte er ihren Satz zu Ende: „Weil ich verheiratet bin.“

Ihre Hände umschlossen fest die oberste Stange des Geländers. Es irgendwo in ihrem Hinterkopf zu hören, war eine Sache. Es ihn aussprechen zu hören, eine ganz andere. Sie fühlte, wie das Kribbeln mit dem Wind fortgetragen wurde. Was hatte sie sich dabei gedacht? Warum hatte sie da mitgemacht? Sie wollte keine Affaire sein, egal wie sehr sie den Mann mit der Stimme, die ihr unter die Haut ging, begehrte. Sie hatte sich von der Atmosphäre mitreißen lassen. Sie hatte es provoziert. Sie hatte ihn aufheitern wollen, aber tief in ihr drin war ihr sehr wohl bewusst gewesen, welche Auswirkungen der Abend haben konnte. Damals hatten ihre Freundin und ihr Mann es ganz eilig gehabt, ins Hotel zurückzukommen.

Er schob seinen Arm unter ihrem durch, legte ihn um ihre Taille und zwang sie, sich zu ihm zu drehen.

Unwillig folgte sie seiner nonverbalen Aufforderung. Jetzt war sie ihm wieder so nah, wie sie es nicht mehr sein wollte. Wo sollte das hinführen?

„Bleib“, sagte er leise und zog sie fester an sich. „Ich liebe es mit dir zusammenzuarbeiten, weil du immer mitdenkst. Aber ich fand es vorhin schön, zu erleben, dass du deinen Kopf auch mal ausschalten kannst.“

Musste er ihr jetzt auch noch Komplimente machen? Wenn er leise sprach, bekam seine Stimme eine erotische Note, die sie ungemein erregte. Ob sie wollte oder nicht. Sie wollte nicht. Sie wollte ihn nicht alle paar Monate in irgendeiner fremden Stadt treffen, mit ihm schlafen, um dann wieder wochenlang die nette Kollegin zu sein. Aber zurück zum Status quo? Ginge das überhaupt?

„Ich kann das nicht.“ Sie wich seinem Blick aus, wollte sich entwinden, doch er ließ sie nicht los. „Bitte!“

„Das hat sich aber eben ganz anders angefühlt.“

„Mag sein.“

Er ging ein bisschen in die Knie, um ihr in die Augen zu sehen.

Seine komischen Verrenkungen dabei brachten sie zum Lachen. Sie hob den Kopf.

„Das gefällt mir besser.“

„Trotzdem …“

„Kannst du mich meine begonnene Rede zu Ende führen lassen?“

„Das hat doch …“

Er verdrehte die Augen, stöhnte genervt – und küsste sie.

Sie wollte sich wehren, wurde aber von ihren Gefühlen überstimmt. Automatisch schlang sie die Arme um seinen Hals und genoss die Nähe seines ganzen Körpers.

Während er seine Stirn an ihre legte, sagte er: „Mein Anwalt hat mich heute Morgen angerufen und mir gesagt, dass ich seit heute ein geschiedener Mann bin.“

Ihr fiel vor Schreck nichts ein, was sie sagen konnte.

„Das hat mir vor aller Freude doch zunächst etwas im Magen gelegen. Ich konnte noch nicht darüber sprechen, als du mich gefragt hast, ob alles in Ordnung sei.“

Sie zog sich ein Stück von ihm zurück. „Wieso hast du nie etwas gesagt? Für mich hatte es die ganze Zeit den Anschein, als wärst du glücklich verheiratet!“ Sie war enttäuscht über sein mangelndes Vertrauen.

„Weil es sich wie eine schreckliche Niederlage angefühlt hat, alles in den Sand gesetzt zu haben. Die Arbeit hat mich abgelenkt. Ich wollte nicht, dass eine dunkle Wolke über unserer Zusammenarbeit schwebt. Du hättest mich gefragt, wie es mir geht, dich nach dem Stand der Dinge erkundigt, all sowas.“

Das konnte sie nachvollziehen. Selbst wenn sie nicht gefragt hätte, die Wolke wäre trotzdem dagewesen.

„Du runzelst die Stirn.“ Er sah sie fragend an.

Sie fuhr mit den Fingern durch seine Haare. „Ich frage mich, ob das vorhin 1001 Nacht geschuldet war oder ob du …“

„Ob ich schon länger darüber nachgedacht habe, dich zu küssen?“ Seine Stimme war wieder dieses Raunen, das sie seltsam schwach auf den Beinen werden ließ.

„Ja.“

„Nachgedacht ja, geplant nein. Ich habe heute Abend erst begriffen, wie sehr ich die letzten zwei Tagen mit dir genossen habe und wie befreiend der Anruf des Anwalts tatsächlich war. Andererseits hatte ich das Gefühl, dass du mich nicht ganz uneigennützig hierhergeführt hast.“

Sie mochte sein Grinsen. „Ja, irgendwie. Ich habe es mir gewünscht, aber da ich von anderen Voraussetzungen ausgegangen bin, habe ich kaum zu hoffen gewagt, dass mein Wunsch in Erfüllung geht.“

Er küsste ihre Wange, dann ihre Nasenspitze. „Diesen Wunsch gab es nicht erst seit heute, oder?“

Sie kannten sich eben doch schon zu gut. Er hatte etwas geahnt. „Nein.“

„Seit wann hegst du diese Gefühle für mich?“

„Seit ich zum ersten Mal deine Stimme gehört habe“, wisperte sie.

Er riss die Augen auf. „Das ist …“

„Viel zu lang“, beendete sie seinen Satz. Dann küsste sie ihn mit einer Leidenschaft, die sie viel zu lang unterdrückt hatte.

ENDE

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